Japan gehört zu den Volkswirtschaften mit den ältesten Familienunternehmen. Wie funktionieren Unternehmerfamilie und Nachfolge im Land der aufgehenden Sonne? Sigrun Caspary, Japan-Expertin und Senior Research Fellow bei der WIFU-Stiftung, gibt im Interview Einblicke in ein komplexes System.

Dr. Sigrun Caspary, welche Rolle spielen Familienunternehmen im japanischen Wirtschaftsgefüge?

Insgesamt sind 96 Prozent der Unternehmen in Japan Familienunternehmen, 21 davon sind älter als 1.000 Jahre. Allerdings ist die Struktur etwas anders, als wir es beispielsweise aus Deutschland kennen. Historisch bedingt gibt es in Japan eine sogenannte duale Form der Wirtschaft: Auf der einen Seite gibt es wenige Großunternehmen, die, wie Mitsui, Mitsubishi oder Yasuda, ursprünglich aus Familienunternehmen hervorgegangen sind, sich dann aber zu großen Konglomeraten weiterentwickelt haben. Diese sogenannten Zaibatsu haben in der Vorkriegszeit – nicht zuletzt durch staatliche Unterstützung – die Industrialisierung Japans massiv vorangetrieben. Auf der anderen Seite steht eine relativ große Zahl von kleinen und Kleinstunternehmen. Dazwischen fehlt das, was wir in Deutschland als Mittelstand kennen.

Dr. Sigrun Caspary

Dr. Sigrun Caspary / Foto: WIFU

Japan und Deutschland sind auch in kultureller Hinsicht sehr verschieden. Inwiefern unterscheidet sich das Verständnis von Familie?

In Japan spielt das Familiensystem „ie“ eine wichtige Rolle. Es bezeichnet das japanische Haus im Sinne einer Wirtschaftseinheit, dessen oberstes Prinzip seine Beständigkeit im Sinne der Fortführung in die nächste Generation ist. Ähnlich wie beim griechischen Begriff „Eukos“ handelt es sich dabei um eine ökonomische Einheit der „erweiterten Familie“, zu der traditionell neben Vater, Mutter, leiblichen und Schwiegerkindern zum Beispiel auch Gesinde, Mägde, Lehrlinge und Beschäftigte gehören – quasi eine „unternehmerische Familie“. Der Familienvorstand und die Unternehmensführung liegen dabei in einer Hand und werden von Vater zu Sohn weitergegeben. Gibt es mehrere Söhne, folgt in der Regel der älteste nach, die jüngeren Söhne treten mit der Hochzeit aus dem „ie“ aus und gründen eigene Zweigfamilien. So wird die Stammfamilie auch über Generationen schlank gehalten.

Welche Rolle spielt die traditionelle Ahnenverehrung in Unternehmerfamilien?

Die Ahnen gehören ganz selbstverständlich mit zum „ie“, genauso wie noch nicht geborene Nachfolger. Sie sind Teil des Alltags. Wenn man nach Hause kommt, wäscht man sich die Hände, läutet ein kleines Glöckchen und entzündet Weihrauch am shintoistischen Hausschrein, um den Ahnen zu sagen: Ich bin wieder da. Diese starke Verbindung macht allerdings auch das Gelingen der Nachfolge noch dringlicher. Wenn eine Familie keine Nachfolger hat, kann auch niemand mehr die Ahnen mit Ritualen besänftigen, was großes Unglück bringen soll. Ein Grund mehr dafür, alles darauf auszurichten, dass das „ie“ fortbesteht.

Was bedeutet das in der Praxis der Unternehmensnachfolge?

Grundsätzlich herrscht eine patrilineare Struktur: Idealerweise wird dem erstgeborenen Sohn die Nachfolge im „ie“ übertragen und auch die Nachfolge im Familienunternehmen. Tritt er die Nachfolge nicht an oder verstirbt er früh, ist es naheliegend, einen weiteren Sohn in die Nachfolge zu bringen. Gibt es keine direkten männlichen Nachkommen, kommt Plan B zum Einsatz: die Adoption. Dabei sucht man zuerst nach männlichen Nachfolgern aus den Zweigfamilien. Aber auch die Verheiratung von Töchtern mit einem qualifizierten Partner und darauffolgend die Adop tion dieses Schwiegersohns wird bis heute praktiziert, wie auch die Adoption von Familienexternen. Das schafft eine gewisse Flexibilität bei der Nachfolge und begünstigt die Langlebigkeit von Familienunternehmen.

Wie verbreitet ist die Praxis der Adoption in Japan heute noch?

Jährlich werden in Japan etwa 80.000 Erwachsenenadoptionen durchgeführt mit dem Ziel, den Fortbestand des „ie“ zu wahren. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Adoptionen in Deutschland: Hier finden die meisten Fälle von Erwachsenenadoption keine Zustimmung bei den Behörden, weil im Zentrum der Argumentation das Wohl des Kindes steht – das spielt bei der Adoption eines Erwachsenen ja keine Rolle mehr. In Japan ist der zentrale Bezugspunkt nicht das individuelle Leben, sondern die Fortsetzung des „ie“ durch einen qualifizierten Erwachsenen.

Ist ein adoptierter Nachfolger wirklich gleichwertig mit einem blutsverwandten Familienmitglied?

Mehr noch: Wenn jemand adoptiert wird, ist damit auch gleich klar, dass er das Oberhaupt des „ie“ wird – genau dafür wird er ja adoptiert. Im Gegenzug erklärt er sich bereit, die Zugehörigkeit zur Familie in allen Dingen zu übernehmen, vom Nachnamen bis zur Verehrung der Ahnen. Die Blutlinie ist weniger relevant. Das ist übrigens ein massiver Unterschied zu China und Südkorea, wo Adoption nicht akzeptiert wird. Ein prominentes Beispiel dafür gibt es beim Automobilhersteller Suzuki: Hier wurde mit dem heute 93-jährigen Chairman Suzuki Osamu ein qualifizierter Außenstehender adoptiert und damit einem leiblichen Sohn vorgezogen. Er hat auch eine Tochter seines Vorgängers geheiratet, so dass die Nachkommen zugleich auch die Blutlinie fortsetzen.

Töchter kommen in diesem System nicht als Entscheiderinnen vor, sondern vor allem als Ehepartnerinnen für qualifizierte Schwiegersöhne in arrangierten Ehen. Gibt es Beispiele von Frauen in der Führung von japanischen Familienunternehmen?

Nur wenige. Beim Teehersteller Yamamotoyama leitet Kurokawa Nami, die Tochter von CEO Yamamoto Kaichiro, mit ihrem amerikanischen Ehemann gemeinsam die Zweigstelle in den USA. Bekannt ist auch das Beispiel des Awazu Onsen Hoshi Ryokan: ein Gästehaus, das seine Wurzeln bis ins Jahr 717 zurückverfolgen kann. In der 46. Generation musste Hoshi im Jahr 2017 Konkurs anmelden, doch die Aktionärsversammlung beschloss zwei Jahre später, das Gasthaus weiterzuführen unter der Prämisse, dass der alte Patriarch die Position des CEO an seine Tochter Hisae übertrug. Sie leitet das Haus seitdem als erste Frau. Allerdings kann es gut sein, dass der Tochter eine Art Interims-Funktion zufällt, bis wieder ein Mann in die Führung kommt: Hisae Hoshi ist inzwischen über 50, unverheiratet und kinderlos. So steht wieder die Frage nach der Adoption im Raum. Eine Option könnte sein, einen Neffen aus einem Seitenzweig der Familie zu adoptieren, wenn er sich als fähig herausstellt und im richtigen Alter ist. Indem er den Stamm übernimmt, wäre die patrilineare Struktur wieder hergestellt.

Verzeichnen Sie mit Blick auf die Rolle der Frauen einen Mentalitätswechsel in der japanischen Bevölkerung?

Ich würde sagen, ja, allerdings bleibt ihr auch wenig anderes übrig: Die Geburtenrate ist in Japan extrem niedrig, die Bevölkerung hat ihren Peak nach dem Jahr 2010 bereits deutlich überschritten und altert stark. Es gibt immer weniger Kinder – eigene, aber auch aus den Zweigfamilien. Das erschwert auch die in Japan vergleichsweise weit gespannte Suche nach einem Nachfolger zunehmend. Für uns in Deutschland ist das interessant, da wir diese Entwicklung noch vor uns haben: So wie die Situation heute in Japan ist, könnte sie hier in 20 Jahren sein. Es könnte gut sein, dass Japan Deutschland noch überholt, wenn es darum geht, Frauen in Führungspositionen zu bekommen. So oder so werden wir das Modell, das eine Frau an der Spitze steht, in Zukunft häufiger antreffen.

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